(SF-Kurzgeschichte, 2004)
„Bitte, Urahne!“ quengelten die nackten, schmutzigen Kinder mit ihren dünnen, unfertigen Stimmen. „Bitte! Erzähl uns noch einmal von der großen Stadt!“
Die alte Aorai ließ sich gemächlich auf dem Betonfußboden nieder und drapierte ihre fleckige Tunika sorgfältig um ihre weiß gesprenkelten, schuppigen Hinterklauen. „Die Stadt befindet sich direkt über uns. Sie hat prächtige Kuppeln, breite Gleitbahnen, Spieltröge für die Kinder, Gärten.“
„Was sind Spieltröge?“ unterbrach sie ein kleiner Junge mit einem winzigen Höcker auf der Stirn neugierig.
„Das sind große Becken, die mit feinem, gelbem Sand gefüllt sind. Da gibt es Klettergerüste, Schaukeln, Springbrunnen, Regentrommeln, Windharfen …“
„Was ist ein Springbrunnen? Eine Wasserleitung, die auf und ab hüpft?“
„Vielleicht“, murmelte die Alte unsicher. „Ich habe noch nie einen gesehen.“
„Und wozu braucht man den Sand?“
„Weiß ich auch nicht, Kinder, angeblich zum Spielen.“
„Erzähl weiter!“ forderte ein zierliches Mädchen mit starren gelben Augen. „Erzähl uns vom Himmel …“
„Da ist ein riesiges Gewölbe über der Stadt“, zischelte die Aorai zögernd. „Manchmal soll es gelb und hell sein … manchmal schwarz, mit glänzenden Punkten. Ich hörte auch von einem heißen leuchtenden Ball, flauschigen Polstern, aus denen ab und zu frisches Wasser tropft …“
„Und die Luft streichelt einen sanft“, flüsterten die Kinder im Chor. „Sie bringt den süßen Duft der Farnblüten.“
„Urahne, warum gehen wir nicht einfach rauf und spielen?“ fragte das kleinste Kind sehnsüchtig. „Hier ist es so eng und so langweilig!“
„Ich weiß nicht. Die Oberen haben es schon vor langer Zeit verboten.“
„Vielleicht ist das alles auch nur ein Märchen“, konterte ein fast erwachsenes Mädchen aufsässig. „Es gibt nur diese Höhlen … es hat nie etwas anderes gegeben.“
„Meine Mutter hat mehrmals behauptet, dass man da draußen nicht mehr leben kann. Irgendetwas ist passiert … ein Unglück“, widersprach die alte Frau.
„Du hast recht“, bestätigte ein kräftiger Mann mit protzig steifem Stirnfühler und prächtig schillernden Schuppen sachlich. „Da draußen ist es inzwischen so heiß geworden, dass ihr auf der Stelle verbrennen würdet.“
„Wieso, ehrwürdiger Lehrmeister?“
„Die ganze Welt wird immer kleiner und blauer. Alles rückt zusammen … auch die Sternenfeuer. In einer Milliarde Zyklen wird nur noch ein winziger, heißer Punkt übrig sein.“
„Woher weißt du das so genau?“
„Es arbeiten immer noch einzelne Messstellen in der Stadt.“
„Also gibt es sie wirklich.“
„Ja, mein Junge, aber sie ist für immer verloren.“
„Schade“, wisperten die Kinder traurig.
* * *
„Ich mag heute nicht, Kanor“, zischte die grünschuppige Frau ihren dunkleren Gefährten gereizt an. „Es ist absurd, dass du deinen Samenfühler schon wieder in meine Eikammer stecken willst. Da ist doch gar nichts mehr drin! Such dir für deine letzten Pollen besser ein fruchtbares, duftendes Tor.“
„Du verstößt mich einfach, Irisa?“ grollte der Mann gekränkt und die pralle Ausbuchtung auf seiner Stirn wippte aggressiv auf und ab. „Nach zweihundert gemeinsamen Zyklen magst du meinen Fühler plötzlich nicht mehr? Womit habe ich das verdient?“
„Mit gar nichts“, konterte die Frau spitz. „Das alles ist nur so sinnlos …“
„Du hättest besser auf mich hören und dich nicht völlig ausräumen lassen sollen!“ murrte Kanor verbittert. „Dann könnte deine Höhle immer noch singen und deine Eier …“
„Was ist mit denen? Gibt es nicht schon genug von diesen armseligen Bunkerlarven? Das ist doch kein Leben: Betonwände, ein paar flackernde Leuchtröhren … überall schuffeln sich die Erwachsenen die Seele aus dem Leib. Und dann dieser eklige Nahrungsbrei, den die Maschine aus allem, was so anfällt, fabriziert! Die Luft stinkt und das Wasser schmeckt nach dem, was bei uns unten herausläuft. Nein, ich bin doch keine Mauerschlange, die ihre Eier einfach im Sand verscharrt und, ohne zurückzuschauen, davonkriecht. Wenn ich schon ein Nest baue, dann möchte ich auch, dass meine Nachkommen eine Zukunft haben! Du weißt so gut wie ich, dass das endgültig vorbei ist.“
„Es dauert doch noch mindestens zweitausend Zyklen, bis die Hitze uns hier unten erreicht“, protestierte der Mann verärgert. „Wenn du nur nicht so voreilig gewesen wärst! Ich hätte noch die Kinder meiner Kinder kennen lernen können!“
„Und zusehen, wie sie hier unten elend krepieren!“
„Die Kraftfelder und Recyclinganlagen funktionieren doch tadellos. Sie werden uns bis zum Schluss beschützen.“
„Du und deine verdammte Technik! Immer willst du alles regeln oder reparieren! Aber diesmal funktioniert das nicht. Unser Universum ist gerade dabei, sich selbst zu verschlingen. Du kannst nirgendwo hin!“
„Du aber auch nicht …“ murrte Kanor verdrossen. „Und ich sehe nicht ein, dass ich nicht noch ein bisschen herumschuffeln soll, bevor mein Samenfühler endgültig vertrocknet und abfällt. Es ist doch das Einzige, was mir bleibt.“
„Es gibt noch einen anderen Weg“, erklärte Irisa still. „Ich bin zwar bis jetzt nicht bereit dafür … habe noch zu große Angst vor den Schmerzen.“
„Du warst wieder bei diesem alten archaischen Feueranbeter!“ empörte sich der Mann. „Seine Stirn ist schon lange kahl und sein Geist völlig verwirrt. Sag bitte nicht, dass du hinauf in die Stadt willst, und …“
„Der Natur ihren Lauf lassen“, vollendete die Frau würdevoll den Satz. „Ich bin eine aufrecht gehende Aorai und kein hirnloser Sandwurm! Ich will dieses erbärmliche, geborgte Leben nicht mehr.“
„Du könntest Gift nehmen oder dir die Blutbahnen zerschneiden“, schlug Kanor ernsthaft vor. „Da würde ich sogar mitmachen. Wir sollten uns noch einmal aneinander reiben, bis alle Torschuppen lodern und singen, gemeinsam in Ekstase verlöschen und am Morgen danach Cebrax schlucken. Ich habe seit vielen Zyklen für den Ernstfall …“
„Nein, wenn mir das heilige Feuer des Kosmos bestimmt ist, will ich auch hinausgehen und brennen!“ widersprach die Frau ruhig. „Alles andere wäre feige und widernatürlich.“
„Priestergewäsch! Dieser verfluchte Kahlkopf!“
„Er verspricht Reinigung und Freiheit, Licht und Ewigkeit“, murmelte Irisa verträumt. „Die heiligen Priesterfürsten der Vorzeit tönen aus seinem Mund.“
„Unsinn! Was für eine Ewigkeit?“ zischte der Mann höhnisch. „Die Ewigkeit eines Schlackeklumpens! Die Ewigkeit der Ursuppe oder was?“
„Du hältst mich für besonders unvernünftig? Dein Kinderglaube an die Allmacht deines welkenden Samenfühlers ist doch noch viel unlogischer! Du passt wahrlich zu all den Jammergestalten hier unten! Entweder glotzen sie stumpfsinnig vor sich hin, schuffeln in aller Öffentlichkeit herum oder sie toben zugedröhnt durch die Gänge und vergeuden ihre kostbaren Fäkalien in finsteren Ecken. Wir waren einmal eine zivilisierte Spezies …“
„Ach so, du nimmst mir auch noch das bisschen Effka übel? Bis jetzt habe ich damit noch niemandem geschadet.“
„Das sehe ich anders. Du kennst dann nämlich kein Maß mehr und das ist nicht gerade angenehm. Sogar meine Eikammer hat schon geblutet, so wild hast du darin herumgestochert. Ach, scher dich weg, Kanor! Ich bin schon lange mit allem fertig … auch mit dir.“
„Ich kenne so eine zierliche Blauschuppige“, konterte der Mann und fügte rachsüchtig hinzu: „Sie wird meinen schönen dicken Fühler schon mögen … und dir wünsche ich Glück mit deinem verdrehten impotenten Extremisten!“
* * *
Der Versammlungsraum war eng und stickig. „Feuer zu Feuer, Licht zu Licht!“ sang der kahle Oberpriester hingebungsvoll. „Wir trotzen dem Schicksal nicht, wir verneigen uns demütig vor der heiligen Glut des Kosmos! Wir teilen das Los all der niederen Kreaturen unserer Welt! Wir verzichten auf Wasser und Brei aus den Ausscheidungen unserer Nächsten und schenken unseren Platz im Bunker den ungeborenen Kindern der Leichtfertigen. Mögen sie ihrem sinnlosen Pfad weiter folgen, während wir stolz ins Licht hinausgehen und …“
Ein verzagtes Seufzen stieg von der Menge auf, ein angstvolles Wimmern, Ächzen und Stöhnen.
„Ja, wir werden uns lebendig verzehren lassen!“ kreischte der Priester in Ekstase. „Wir werden brennen, brennen, brennen!“ Ein paar verkrümmte Gestalten verdrückten sich unauffällig durch den Hintereingang. „Ungläubige! Narren! Feiglinge! Dröhnt euch doch mit Effka zu! Kopuliert weiter in aller Öffentlichkeit herum! Fresst wie bisher euren eigenen Dreck! Das heilige Feuer wird euch auch in euren Löchern finden und vertilgen!“
„Es gefällt ihm, seine Zuhörer zu erschrecken“, dachte Irisa irritiert. „Er ist eitel, grausam, machtgeil und nicht einmal besonders inspirierend … worauf habe ich mich da eingelassen? Womöglich sollte ich schnellstens zurück zu Kanor …“
„Ich habe von einem strahlenden Licht geträumt“, unterbrach ein weißgeschuppter Mann mit verdorrt herabhängendem Fühler ihre Gedanken. „Es war hell und sanft, schwebte hoch über der Stadt. Und als alles andere immer kleiner und kleiner wurde, verschlang es die ganze Welt. Es gab nur noch das Nichts und das Licht …“
„Das ist eine ziemlich exakte Umschreibung dessen, was gerade mit unserem Kosmos passiert“, stellte Irisa trocken fest. „Du hast vermutlich im Schlaf nachvollzogen, was in der nächsten Milliarde Zyklen passieren wird.“
„Nein, wir selbst waren das Licht“, widersprach der alte Mann leise. „Glaub nicht diesem Priester, sondern mir, denn ich bin ein Wahrträumer.“
„Noch ein Verrückter“, murmelte die Frau zerstreut und ging zurück in ihre Kammer. Sie kam ihr merkwürdig groß und leer vor. Kanor war ausgezogen und hatte seine drei löcherigen Tuniken und alle übrigen Habseligkeiten mitgenommen.
„Nun bleibt mir nur noch der große Brand“, dachte Irisa.
* * *
Die Gläubigen hielten sich aneinander fest, während sie mühsam die steile Wendeltreppe aufwärts klommen, stolperten kraftlos hinaus in den Gluthauch der Stadt. Sie sah ganz anders aus, als erwartet: Die Bauten und Wege waren verwittert und verformt, glühten unheimlich und die hohe Kuppel … ein Feuerball war nirgendwo zu sehen, aber das Himmelsgewölbe war mit riesigen blauen Flecken übersät, die alles in ein bleiches, gleichmäßiges Licht tauchten … ein Licht, das von allen Seiten kam und keine Schatten zuließ. Von der berühmten Statue des unbekannten Raumfahrers rannen unaufhörlich große Tränen aus Kunstharz.
Irisa fühlte deutlich, wie die Strahlung ihre Schuppen perforierte und ihr Fleisch in eine phosphoreszierende, amorphe Masse verwandelte. Der Schmerz war grell und heiß … öffnete sie vom Mund bis zur Ausscheidungsöffnung wie der glühende Zeremoniendolch eines Priesterfürsten der Vorzeit sein zappelndes Regenopfer. Plötzlich erfüllte der Klang imaginärer lederner Trommeln die Luft. Schatten längst verblichener Aorai schrien und zuckten, versengten im Rausch mit lodernden Fackeln ihre nackten, grell bemalten Bäuche. Der beißende Atem der Steinzeit wehte siegreich über den glühenden Platz. Die Frau sah sich mit letzter Kraft um, während sie sich an den Greifern ihrer Nachbarn festklammerte. Da krochen nach und nach hunderte von Männern, Frauen und Kindern aus den Luftschleusen. Ihre Gesichter verzerrten und schälten sich sofort, Tuniken und Schuppen flammten auf, Herzen dröhnten wie Geistertrommeln und sie schrien wild: „Nimm uns, du uralter Feuergott! Friss unsere Leiber! Ah! Ah! Ah!“
Irisa starb zu Füßen des im hellen, blauen Licht weinenden Denkmals aus glücklicheren Tagen. Alle starben. Der Oberpriester blieb mit weit offenem Mund liegen. Es sah aus, als würde er immer noch rufen: „Brennt! Brennt! Vereinigt euch mit dem Kosmos und brennt!“
Als die rötliche Sonne aufging, lagen überall verkrümmte, versengte Leichen herum. Der unermüdlich fauchende Wind bedeckte sie beinahe zärtlich mit Asche und Staub.
* * *
Irisa wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte … wahrscheinlich sehr, sehr lange, denn die Stadt war inzwischen vollständig in Aors feuriger Kruste versunken. Die Schmelze hatte vermutlich die Bunkeranlagen in der Tiefe längst überschwemmt und verzehrt.
„Hoffentlich hat Kanor nicht leiden müssen“, dachte sie flüchtig. „Und auch all die anderen, vor allem die kleinen Kinder … selbst das Mädchen mit den blauen Schuppen. Eigentlich tun sie mir alle Leid.“
Die Frau spürte neben sich eine ungewöhnlich kraftvolle Zusammenballung mentaler Energie. „Ich bin der Wahrträumer“, flüsterte es in ihr. „Wir haben zwar keine Körper mehr, aber wir sind immer noch da. Wir sind die einzigen Fühlenden des sterbenden Kosmos.“
„Wir? Wir beide? Wir sind die Einzigen? Das klingt schauerlich!“
„Nein, Irisa, die meisten Seelen jener stolzen Aorai, die freiwillig die Bunker verlassen haben, existieren immer noch. Der alte Feuerpriester hat es allerdings nicht geschafft. Dieser perverse Narr hat sich an seiner Macht und den Ängsten seiner Gläubigen geweidet, statt sie väterlich zu leiten. Seine Seele war viel zu kaputt und schwach. Sie hat sich im Sternenfeuer aufgelöst.“
„Und Kanor?“
„Er ging verloren … so wie alle, die da unten zurückgeblieben sind.“
„Was machen wir jetzt? Abwarten und zusehen, wie alles zusammenstürzt?“
„Warum nicht?“ antwortete der Wahrträumer sachlich. „Wir sind tot, wir können also nicht mehr sterben. Andererseits ist es eine große Gnade, dabei sein zu dürfen, wenn ein ganzes Universum zur Singularität wird. Als ich jung war, habe ich mich viel mit Kosmologie beschäftigt …“
„Was sagst du? Du findest es interessant, dass …“
„Versteh doch! Ich habe alle Zeit der Welt, ungefähr eine Milliarde Zyklen, um die faszinierenden Theorien der alten Lehrer zu überprüfen. Was für eine einmalige Gelegenheit!“
„Für mich und die meisten anderen Aorai wird es eher einsam und langweilig werden“, entgegnete die Frau traurig. „Wir sind leider nicht alle so intellektuell …“
„Ich teile gern mein Wissen mit euch“, unterbrach sie der Wahrträumer eifrig. „Ihr könnt mit mir zusammen denken, wachsen, weit in die Zukunft schauen und das Unmögliche hoffen. Wenn wir zu einem einzigen Geist verschmelzen, werden wir unglaublich stark und reich sein … vielleicht können wir sogar etwas bewirken.“
„Ja“, flüsterte Irisa wie in Trance. „Unsere Existenz wäre sinnvoll … zum allerersten Mal wäre es wichtig, dass es uns gibt!“
„Dann werde ich jetzt die anderen rufen.“
Der körperlose Geist des alten Träumers öffnete sich ganz und gar und nahm seine Gefährten fürsorglich auf. Der sterbende Kosmos hatte nun eine Seele.
* * *
Das All ist in sich zusammengestürzt. Es gibt nur noch eine winzige Knospe, kleiner als ein Atom … eine Keimzelle, aus der praktisch alles werden könnte.
Aber diesmal ist es anders als sonst, denn der Geist der Aorai ruht in ihr verborgen … denkt, fühlt und träumt.
Die Knospe öffnet sich zur rechten Zeit. Auf wundersame Weise entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie. Der neue Kosmos kann wieder Galaxien bilden, Sterne, Planeten, Leben …
„Wir verwandeln noch etwas Materie in Licht, dann wird dieses Universum niemals schrumpfen“, denkt der Eine, der eigentlich viele ist, gütig. „Unsere Träume zeigen uns aufrecht gehende Gestalten … intelligente Lebewesen mit empfindlicher Haut und zerbrechlicher Seele … Menschen. Ihre Städte sind schön, so schön, wie es unsere einst waren. Wir möchten, dass es ihnen besser als uns ergeht.“
© Anneliese Wipperling
(Diese Geschichte schaffte es in die Top 10 des Storywettbewerbs „Neues aus anderen Welten“ von www.storyline-net.de)