Der Gedankendieb

(SF-Kurzgeschichte, 2006)

Es soll tatsächlich Banausen geben, die noch nie was von Carlos Mansilla gehört haben! Ich weiß nicht, wie die das schaffen, denn mich kann man praktisch überall und in allen großen Sprachen des Quadranten lesen. Es vergeht keine Woche, wo ich nicht zu Vorträgen und Talkshows eingeladen werde. Ich bekam schon dreimal den Pegasusorden erster Klasse, zweimal den Federico García Lorca-Ehrenpreis, fünfmal den intergalaktischen Novastern und einmal sogar einen goldenen Ehrenring vom Planeten Nakkar. Ich bin gut. Diese hoch bezahlten Kritiker können sich gar nicht irren!
Mir ist egal, was die neidische Literatenfront geifert. Solange das Publikum in Scharen kommt und die Mädchen … sogar Kah´Gelah, eine hoch gelobte junge Poetin vom Planeten Heyla lag mir zu Füßen. Sie hat mich geheiratet, obwohl ich mehr als zweimal so alt wie sie bin. Gelly sieht auf ihre spezielle Weise ganz passabel aus und sie ist ziemlich wild im Bett … aber deshalb habe ich sie nicht genommen. Es ist ausgesprochen nützlich, die Konkurrenz im Griff zu haben. Heylaner sind Telepathen, ihre Ehepaare mental auf Gedeih und Verderb verbunden. Ich weiß immer, was meine Frau denkt und fühlt. Sie wird mich niemals übertreffen, denn ihre Ideen, Metaphern und Träume gehören mir.
Wenn ich bloß an die letzte Lesung denke … oh, ich liebe diese verzückt zum Podium gereckten Gesichter, das schmachtende Seufzen der jungen Frauen, verstohlene Tränen bei den Großmüttern und die steinernen Mienen, hinter denen die Männer ihre Ergriffenheit verbergen. Natürlich genieße ich hinterher den frenetischen Applaus und das duftende Ruhmesgemüse aus zarter Hand.
Gelly hat, seit wir zusammen sind, nichts mehr veröffentlicht. Sie ist total blockiert, depressiv … wahrscheinlich von meinem strahlenden Ruhm geblendet. Als ich für mein neuestes Werk endlich den heiß begehrten Kristallobelisken der interplanetaren Dichtergilde erhielt, wurde sie grün vor Eifersucht … na ja, eigentlich ist sie immer grün aber diesmal war es besonders schlimm. Drei Tage später ist sie nach Heyla abgedüst. Sie hat mir nur einen Zettel hinterlassen: „Carlos, ich brauche dringend einen Gedankenmeister. Ich weiß nicht, ob und wann ich wiederkomme. Kah´Gelah aus dem Hause Boras.“
Erst wollte ich hinterher und sie zurückholen. Aber dann habe ich es mir anders überlegt: Heylanische Gedankenmeister sollen kreuzgefährlich sein und überhaupt: eine ganze Welt voller pinselohriger grünblütiger oberschlauer Supertelepathen? Nein danke!
Es war schon schwierig genug, Gellys Visionen unbemerkt aufzuschreiben, zu glätten, zu feilen und das Ergebnis heimlich zu meinem Verleger zu tragen. Glaubt mir, damals ist die Hälfte meiner Einkünfte für Schnaps draufgegangen, aber es hat sich gelohnt. Ich kam eher zufällig dahinter: Schon ein mittlerer Rausch verzerrt die Gedankenmuster von uns Menschen so sehr, dass keine telepathische Spezies des Universums mehr was damit anfangen kann. Wir sind schwach und das verhilft uns ausnahmsweise zu einem Vorteil gegenüber gewissen Pinselohren und anderen nervtötenden Besserwissern!
Meine weise katalanische Großmutter hatte recht: „Alles im Leben ist zu irgendetwas gut. Man weiß nur nicht gleich, wofür.“
Für meine speziellen Probleme wusste sie leider keinen Rat. Ich werde nämlich seit Jahren von Neidern als gemeiner Ideendieb denunziert! Die Kollegen sichern ihre Computer mit immer raffinierteren Passwörtern, sind in meinem Beisein äußerst reserviert, begnügen sich unter fadenscheinigen Vorwänden mit Limonade … was für Geizkragen und Heuchler! Als wenn die nie irgendwas von anderen aufgeschnappt und verwurstet hätten! Schleimbolzen, hinterhältige! Ich bin einsam, mir fällt seit Monaten nichts mehr ein und in elf Tagen soll ich mein Manuskript abgeben! Vertrag ist Vertrag, sagt der alte Gabin immer. Das schaffe ich nie! Und dann bin ich weg vom Fenster. Womöglich endgültig.
Ich höre schon, wie sich meine Erzfeinde die Mäuler zerreißen: „Ah, der große Carlos Mansilla ist in der Krise! Der kriegt sein Buch nicht fertig und das ausgerechnet, wenn seine Frau auf Heyla ist. Ist das nicht äußerst merkwürdig?“
Gelly ist eine naive egoistische Kuh! Was blökt sie dauernd von geistigem Eigentum und ähnlichem Schwachsinn? Beim großen Apoll! Es gibt seit der Antike keine neuen Ideen mehr, nur noch das stilvolle Spiel mit vertrauten Mustern. Wir alle sammeln Eindrücke, biegen und schleifen sie ein bisschen … sind wir deshalb gleich Betrüger?
Ich renne seit Stunden in meinem riesigen Arbeitszimmer auf und ab. Ich komme mir vor, wie eins dieser Zootiere … wie aufgezogen. Gott! Die Brusthaare quellen wie Grizzlyfell aus dem Ausschnitt meines goldfarbenen Xanthapischlafrocks, seine Schöße wedeln wie Gänseflügel und enthüllen schamlos mein bestes Stück. Ach! Wen schert das? Wen geht es was an, wenn ich mittags noch nicht gewaschen und angezogen bin! Ich sehe genau richtig aus: malerisch wie ein Poet im Schöpfungsrausch … wie jemand, den die Musen in Ekstase versetzt haben. Pah! Seit wann gelten die Regeln des Pöbels für ein Genie wie mich? Ich diene nur meiner heiligen Maschinerie zum Ernten, Ordnen und Verarbeiten von Eindrücken. Ich liebe ihr Zischen, Pfeifen und Rattern … wenn sie denn was zu Fressen hat.
„Es kann eigentlich gar nicht sein, dass die kleine Gelly mir so viel bedeutet, dass ich ohne sie …“ Ich lasse den Satz unvollendet im Raum hängen und bleibe in Denkerpose neben meinem prestigeträchtigen antiken Mahagonipult stehen. Es hat früher dem chilenischen Dichter Neruda gehört … zumindest hat das mein Antiquitätenhändler behauptet. Ich aktiviere das auf der schrägen Platte deplatziert wirkende Aufnahmegerät.
„Morgennebel“, deklamiere ich und registriere nebenbei, wie versoffen meine Stimme klingt. „Galaktischer Nebel, Parfümnebel … Duftattacke der Walrösser … Quatsch … Duftattacke der Seekühe … äh Sirenen … ich … ich erliege dir, du grünblütige … du staubige Wüstenkuh, Worte malmende Wüstenkuh, geizige Wüstenkuh mit Zähnen aus … und Euter. Ach Shit! Was für ein sinnloser Müll! Das ist ja mit Abstand die schlimmste Schreibblockade meines Lebens!“
Ich begreife nicht sofort, woher diese schrillen Wutschreie kommen, wieso mein sauteurer Rekorder mit voller Wucht an die Wand klatscht und zu meinem maßlosen Entsetzen kurzerhand in seine Einzelteile zerfällt. „Ah! Ah! Du hässliches grünes Aas gönnst mir rein gar nichts! Komm endlich nach Hause! Antworte auf meine Nachrichten! Monatelange Klausur in der Wüste! Wo gibt es denn sowas? Du bist verheiratet! Mit mir!“
Als wenn so etwas auf eine kontrollierte, logikverliebte Heylanerin Eindruck machen würde! Und nun ist auch noch mein schöner Rekorder futsch! Na gut, klauben wir die Einzelteile vom Teppich, bevor die Putzfrau sich darüber wundern kann. Vielleicht finde ich wider Erwarten jemanden der mir das billig repariert. Was mache ich aber, wenn mich gerade jetzt die Muse küsst? Zu Stift und Papier greifen? Das Gekrakel kann doch hinterher niemand entziffern … nicht einmal ich selbst!
Plötzlich überkommt mich ein zwanghaftes Kichern: „Hihi! Das ist eine geniale Idee! Ich lasse Doc Morgan, eine Eilbotschaft nach Heyla schicken: ‚Sofort heimkommen! Der große Carlos Mansilla liegt im Sterben.‘ Das klappt bestimmt! Meinem Lektor schmeiße ich bis dahin ein paar halbgare Brocken zu und sage ihm … ach was, der kann warten. Schließlich bin ich ein gefeierter Hausautor.“
Ich befummele abwesend mein berühmtes Stehpult, dann hole ich eine staubige Flasche aus dem Wandschrank und gieße mir ein Glas Cognac ein. Ich brauche das Zeug ganz dringend, um mich zu beruhigen.
„Wenn Gelly kommt,“ erkläre ich trotzig. „Wenn sie wieder da ist, sauge ich mir all ihren Hass und ihre Sehnsucht herunter … heiße Wüsten, spitze Felsen und – nicht zu vergessen – ihre typisch heylanische Geilheit. Sowas mögen die Leute. Der Verlag wird’s liebend gern fressen. Ein gescheiter Kerl darf kein dummes Luder sein.“ Das ist auch ein beliebter Wahlspruch meiner Oma.

Die Albatros, ein schrottreifer Billigraumer der Standardroute Heyla´Thur – Paris-Orly, hat soeben die Plutobahn überquert. In einer Stunde ist mein Frauchen bei mir. Vermutlich schläft sie gerade. Typisch Heylaner! Immer schön ruhig bleiben, alles griffbereit haben und keinen Moment zu früh aufstehen! Die tun so überlegen und organisiert! Das ist vielleicht widerlich! Aber hey! Ich habe endlich wieder mentalen Kontakt! Gelly pennt tatsächlich. Ich empfange ein diffuses Rauschen und dann … sie träumt. Hurra! Futter für meine organische Festplatte! Faszinierend! Wenn auch nicht gerade schmeichelhaft …
Gelly besteht seltsamerweise nur aus riesigen Augen, haarigen Ohren, einer spitzen Nase, dem grünen Mund. Mehr sehe ich nicht. Ein vollständiges Abbild von mir liegt splitternackt in malerischer Pose im Treppenhaus unserer Pariser Wohnung. Es schläft fest und sie glotzt es irgendwie hungrig an. Sicher bewundert sie meinen liebevoll getrimmten Waschbrettbauch und vor allem meinen prächtigen Lümmel. Plötzlich spüren wir beide, dass sich schräg hinter ihr etwas regt. Die Augen wirbeln hastig herum: Der Deckel des Müllschluckers hebt sich ganz langsam. Mehrere rosige, mit Saugnäpfen versehene Tentakel kriechen darunter hervor. Brrr! Was für ein ekliges Zeug! Gelly beobachtet mit krankhafter Neugier, wie die Fangarme sich witternd aufrichten und mit widerwärtigen Schlängelbewegungen meinem reglosen Körper nähern. Als sie ihn berühren, wacht mein anderes Ich schreiend auf und beginnt ungeschickt um sich zu schlagen. Es nützt rein gar nichts. Innerhalb von Sekunden liegt da nur noch ein wohl verschnürtes zuckendes Bündel. Als sich ein wurmförmiger, besonders dicker Fortsatz des Abfallmonsters energisch in seinen weit offenen Mund zwängt, wird es abrupt still. Mein allseits bekannter Charakterkopf färbt sich scheußlich violett, die glutvollen spanischen Augen hängen aus den Höhlen, sorgfältig manikürte Finger greifen verzweifelt ins Leere … in wenigen Minuten ist es vorbei. Gelly schaut reglos zu, wie das Ungeheuer meine Leiche zum Müllschlucker schleift und mit verblüffender Geschicklichkeit durch den Spalt zwischen Schacht und Deckel bugsiert. Endlich verschwindet der letzte rosige Saugnapf und die Abdeckung klappt mit einem lauten Knall herunter. Sämtliche Lampen im Korridor erlöschen. Oder … nur die frei schwebenden Augen sind weg! Da wabern im Halbdunkel noch ein Paar durchsichtige Pinselohren und eine spitze Nase. Ich höre den Wind leise heulen und ich rieche … etwas Fremdes, Herbes … ein heylanischer Mann? Das fehlt mir gerade noch!

Da kommen ja endlich die Shuttles von der Albatros! Ich wedele pflichtgemäß mit einem riesigen Begrüßungsstrauß, versuche mein kleines Frauchen zärtlich zu küssen.
„Du hast mich belogen!“ faucht Gelly erbost. „Du bist gar nicht krank.“
„Ich bekenne mich schuldig“, säusele ich so gefühlsduselig wie möglich. „Die Sehnsucht nach dir hat mich überwältigt.“
Gelly verzieht verächtlich den grünen Mund. „Lass das billige Geschwafel! Ich weiß doch, wann du dein Manuskript abgeben musst.“
„Ach du! Kleine! Denkst du immer noch, dass ich dich beraubt habe? Es ist doch ganz normal, dass Eheleute alles miteinander teilen! Meinetwegen kannst du auch einige ganz tolle Ideen von mir haben und …“ Ich taste vorsichtig nach ihren Gedanken aber da ist nichts! Nur eine glatt polierte Wand aus schwarzen Steinquadern und ein wolkenloser Himmel darüber. „Was … was zum Teufel ist das? Was hast du mir angetan? Gelly!“
„Nenn mich nie wieder mit diesem albernen Kosenamen!“ antwortet sie steif. „Ich bin nicht mehr deine kleine Gelly und vor allem nicht dein Selbstbedienungsladen.“
Plötzlich ist mir speiübel vor Wut und Hass. „Du!“ zische ich eiskalt. „Was meinst du, warum ich dich geheiratet habe? Wegen deiner glitschigen grünen Zunge etwa?“
„Schade, dass du nicht wirklich im Müll gelandet bist!“ kontert sie spitz.

Ich hocke im ‚Goldenen Affen‘ vor einem Teller gedünsteter Muscheln und verfluche halblaut den heylanischen Scharlatan, der meiner Frau geholfen hat, mich auszusperren. „Sowas müsste glatt verboten werden! Der Mistkerl mischt sich in meine Ehe ein, hetzt meine Gelly auf und jagt mich in den Ruin! Wer soll jetzt die Familie ernähren? Diese grünblütige Wüstenkuh etwa? Die bringt doch rein gar nichts zustande. Soviel zur begnadeten Lyrikerin!“
Ein schrilles Auflachen in meinem Geist sorgt dafür, dass mir die Gabel aus der Hand rutscht und klirrend auf den Teller fällt. Erst jetzt merke ich, dass mich sämtliche Kellner und Gäste irritiert anstarren. Sogar der speckige Koch schiebt seinen Kopf neugierig aus der Durchreiche. Einen Moment bin ich so durcheinander, dass ich die Wut meiner Frau problemlos verstehen kann. Wenn jemand wagen würde, mir sowas anzutun …
„Gib es auf“, antwortet eine giftige mentale Stimme auf meine Gedanken. „Du bist nur ein erbärmlicher Gedankendieb! Du hast noch nie in deinem Leben etwas Eigenes geschaffen. Du weißt gar nicht, wie man das macht.“
Die hinterhältige Wüstenhexe kann weiter in meinem Schädel herumstochern und ich stehe wie der allerletzte Trottel vor ihrer beknackten Wand! Die weidet sich an meinen vergeblichen Schreibversuchen! Das ist so demütigend! Zum Glück ist es einfach die Schnecke loszuwerden: „Kellner! Bitte einen doppelten Cognac!“
Wenig später sind meine Gedanken weich und breiig, beruhigend langsam und mit einem diffusen Rauschen verquirlt. Die mentale Präsenz meiner Frau ist spurlos verschwunden, was mich mit irrationalem Triumph erfüllt. Plötzlich überläuft es mich siedendheiß. „Ver … verdammt. Ich mmmmuss … ich komme zu spät … Maurice wartet. Kkkellner! Einen Mmmokka bbbitte!“
Als ich das Verlagsgebäude betrete, ist mein Verstand zwar immer noch isoliert, dickflüssig und träge, aber das Koffein hilft mir, meinen desolaten Zustand halbwegs zu verbergen. „Wie erkläre ich, weshalb ich in einem ganzen Jahr nur ein einziges Gedicht geschrieben habe? Gott! Wenn ich mich verquatsche!“ Natürlich siegt der Alkohol über das Koffein und ich verplappere mich tatsächlich.
„Habe ich Sie richtig verstanden?“ fragt der Lektor Maurice Seurat außer sich. „Weltstaub stammt in Wirklichkeit von Ihrer Frau?“
„Das stimmt doch gar nicht!“ protestiere ich zutiefst gekränkt. „Ich habe nur ein paar Gedankenfetzen von ihr verarbeitet. Ich musste alles noch in die richtige Form biegen, schleifen, polieren … ich habe wochenlang Synonymwörterbücher und Datenbanken gewälzt. Ich habe wie ein Vieh gerackert! Weltstaub ist mein Buch!“
„Ihre Frau war eine viel versprechende Debütantin. Meinen Sie nicht, dass sie das auch selbst hingekriegt hätte? Und womöglich besser als Sie …“
„Ich … äh …“
Der Lektor beäugt mich wie ein seltenes, besonders unappetitliches Insekt. „Ich habe schon früher Gerüchte über Sie gehört, böse Gerüchte von Aufnahmegeräten bei Saufgelagen mit jungen Autoren. Und dass Sie einen Hacker dafür bezahlen, dass er die Computer der Konkurrenz anzapft. Ich habe das alles nie geglaubt. Aber nun, wo Sie es selbst zugeben … die sauberste Lösung wäre, sofort die Staatsanwaltschaft und die Öffentlichkeit zu informieren aber das darf ich nicht allein entscheiden.“
„Der alte Gabin?“ frage ich alarmiert.
„Ja, warten Sie bitte!“ Damit rennt Seurat wie gehetzt aus seinem Büro. Er ist froh, dass er das Problem los ist.

Der bullige Chef des Hauses ist ein berüchtigter Choleriker, der weder auf subtile Befindlichkeiten noch auf den Narzissmus seiner Autoren Rücksicht nimmt. Wenn er richtig in Wut gerät, färbt sich sein Gesicht karminrot, er hämmert wie ein Irrer mit den Fäusten auf den Schreibtisch und es kann sogar passieren, dass Datenträger, Belegexemplare und kleine Blumentöpfe haarscharf am Ohr des Delinquenten vorbeisausen, gegen die Wand krachen und stückweise zu Boden fallen. Okay, manchmal trifft er aus Versehen auch etwas anderes als die Wand. Natürlich beschwert sich niemand. Schließlich hat der Verlag einen sehr guten Ruf und die Honorare liegen weit über dem Durchschnitt.
„Sie dämlicher Klaubruder!“ brüllt Gabin, als ich mich wie eine Natter in sein Büro schlängele. „Sowas hat mir gerade noch gefehlt! Ein Möchtegernpoet, der mir massenweise Urheberrechtsprozesse einbrockt! Ein Niemand mit einem Ego, das so fett wie der Mount Everest ist! Warum sind Sie eigentlich nicht Politiker geworden? Aber nein! Sie versteifen sich ausgerechnet auf etwas, wofür Sie null Talent haben! Was fange ich jetzt mit Ihnen an? Wissen Sie überhaupt, was mich der ganze Unfug kosten kann?“
„Nnein …“ Jetzt heißt es Demut heucheln. „Ich … ich habe Ihnen nie Ärger gemacht …“
Gabins Trommelsolo verstummt abrupt. Er sieht mich scheel aus blutunterlaufenen Augen an. „Das stimmt“, bestätigt er unerwartet ruhig. „Sie haben immer pünktlich geliefert und niemand konnte Ihnen je etwas nachweisen. Glauben Sie, dass ihre Frau vor Gericht gehen wird? Hat sie überhaupt Beweise in der Hand?“
„Nein, nur ein heylanischer Gedankenmeister könnte eventuell …“
„Das heißt, dass wir Weltstaub gar nicht vom Markt nehmen müssen und wahrscheinlich können wir sogar Ihr nächstes Buch … die Vorankündigung ist längst raus, da wäre es verdammt blamabel … nein, ein Rückzug kommt nicht in Frage.“
Auf einmal ist der gefürchtete Gabin nur noch ein kühl rechnender Geschäftsmann. Ich habe inzwischen den Verdacht, dass die meisten seiner Wutausbrüche wohl kalkulierter Theaterdonner sind. Der hat es nötig, den Moralapostel zu spielen! Am besten lasse ich ihn spüren, dass ich ihn durchschaut habe.
„Gelly kann nicht ewig mit einer Mauer im Kopf herumlaufen“, erkläre ich entspannt. „Sie ist jung und unerfahren. Bestimmt lässt sie sich wieder von mir einwickeln. Jede Frau liebt Süßholz und wenn ich noch ein bisschen Hand anlege … Monsieur Gabin! Geben Sie mir ein wenig Zeit und Sie kriegen Ihr Manuskript. Großes Ehrenwort!“
Der Mann hinter dem Schreibtisch fixiert mich kalt. Wahrscheinlich missfällt ihm mein familiärer Ton. „Behalten Sie Ihre Sauereien für sich!“, poltert er. „Ich brauche nur eine klare Zusage und einen verbindlichen Liefertermin. Wenn Sie das nicht hinkriegen, können Sie sich gleich einen neuen Verlag suchen.“
„Aber wie soll ich …“ protestiere ich erschrocken. Ich habe den Choleriker unterschätzt: Der ist ja noch gefährlicher, wenn er nicht wütend ist!
„Mansilla, Sie waren doch bisher ziemlich clever! Ich habe gehört, dass manche Heylaner Drogen nehmen, um ihre famosen Gedankenmeister vergessen und beim Sex ordentlich die Sau herauslassen zu können. Bestimmt hilft das auch gegen diese Mauer. Vielleicht weiß Ihr Hausarzt Näheres.“
„Sie meinen, der kann mir das Zeug besorgen?“
„Ich meine gar nichts“, kontert Gabin staubtrocken. „Ich will Ihr Manuskript in acht Wochen auf dem Tisch haben. Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache.“
„Wenn ich mich wieder voll dröhne, bis … Doc Morgan kann das Präparat vermutlich problemlos bestellen …“ überlege ich. „Gelly wird nicht mitkriegen, was ich plane und wenn die Scheißmauer erst weg ist, nehme ich alles, was ich kriegen kann. Das reicht für mehr als ein Buch! Und falls die Kuh auf die bescheuerte Idee kommt, unsere Bindung trennen zu lassen? Dazu braucht sie einen heylanischen Mentaltechniker und obendrein den Segen ihrer Clanmutter … das wagt sie nie.“
Laut sage ich zu dem alten Berserker: „Einverstanden! Ich halte den Termin.“
„Gabin knallt eine eckige Whiskyflasche und zwei Gläser auf den Tisch und lächelt dünn. „Auf weitere gute Zusammenarbeit, Mansilla!“
„Auf gute Zusammenarbeit, Monsieur Gabin!“ Die Grobheit des Chefs schmeckt wie bittere Medizin … aber was solls?

Meine Gelly lehnt wie ein Schluck Wasser am offenen Fenster, schaut hinauf zu dem vollen Mond über dem funkelnden Lichtermeer und atmet schwer. Sie sieht aus, als wäre ihr meine präparierte Paella nicht bekommen. Das ist gar nicht gut! Ich muss sie ablenken, trösten … und vor allem inspirieren.
Ich schleiche mich lautlos von hinten an. „Der Frühling und die Stadt der Liebe …“ wispere ich verführerisch. „Ein Silbermond spiegelt sich in der Seine. Ist das nicht romantisch? Wollen wir einen Spaziergang machen?“
„Nein“, antwortet Gelly und wischt einfach meine Hände von ihren Brüsten. „Ich gehe ins Bett. Deine Paella … vermutlich war der Tintenfisch schon zu lange tot. Und dein süßliches After shave macht alles noch schlimmer.“
„Du Arme! Ich komme natürlich mit.“ Jetzt gestattet Gelly, dass ich sie streichele und sanft ins Schlafzimmer bugsiere. „Brauchst du einen Arzt?“ frage ich besorgt.
„Nein. Bring mir einen Eimer!“
„Ja klar!“
„Sowas schlucken die Heylaner freiwillig?“ sinniere ich, während ich mechanisch die Hand meiner schlafenden Frau streichele. Ihr Erbrochenes riecht eigenartig. Plötzlich ekele ich mich vor ihren blassgrünen Lippen und Brustwarzen, den weichen Haarbüscheln an den spitz zulaufenden Ohren … und ihr Körpergeruch … nun ja, anfangs fand ich Gellys Interesse echt schmeichelhaft aber … sie war verrückt nach alter spanischer Lyrik, vor allem der von Federico García Lorca und da ich auch ein spanischer Poet bin … und selbstredend war sie wie alle jungen Mädchen von meinem weltmännischen Charme hingerissen … und natürlich auch von meinem strahlenden Ruhm.
Ganz am Anfang haben wir wie Zwillinge alles geteilt: Eindrücke, Gedanken, Visionen, Träume. Noch nie bin ich so leicht an gutes Rohmaterial gekommen!  Wir hatten zusammen eine wunderschöne Zeit! Und nun? Ich hätte nie gedacht, dass die kleine Gelly so kalt und egoistisch sein kann! Warum schenkt sie mir ihre Einfälle nicht? Das wäre ein Liebesbeweis! Statt dessen … Gabin und Doc Morgan sind Vollidioten! Seit die Bindung weg ist, komme ich gar nicht mehr bei ihr rein. Ich darf nur die Kotze wegschaffen.“ Plötzlich entdecke ich in dem stinkenden Brei bläuliche Schlieren. „Das Pülverchen … sie hat nur einen Bruchteil der Dosis verdaut. Unsere Bindung ist womöglich nur geschwächt und wenn ich …“
Kurz entschlossen nehme ich den Kopf meiner Frau in beide Hände, konzentriere mich wie nie zuvor in meinem Leben: Gelly träumt von Heyla. Die endlose Wüste flimmert unter einer riesigen blauen Sonne. Hoch am grünen Himmel kreisen zwei durchsichtige Vögel. Ich höre sie laut schreien. Ab und zu blitzen ihre glänzenden Schwingen im schrägen Nachmittagslicht auf. Plötzlich erscheint aus dem Nichts ein großer schwarzer Mann in einem seidigen weißen Mantel. Ein Heylaner, der so stark und makellos aussieht, dass mir der blanke Sexualneid wie ein Schwall ätzender Säure in die Kehle schießt. Ich erkenne seinen Geruch sofort. Das ist bestimmt mein Intimfeind! Der Gedankenmeister, bei dem sie das ganze Jahr …
„Kah´Gelah! Wach auf!“ Die Stimme des Unbekannten klingt kühl und dunkel zugleich. „Ein Dieb hat soeben die Mauer überwunden!“

Kah´Gelahs riesige weit offene Augen glühen unheimlich. Ich fühle mich wie die sprichwörtliche Maus vor der Schlange, überlege hektisch, wie viel sie mir im Ernstfall nachweisen könnte und dann …
Die Mauer ist wieder da, abweisender und höher als vorher. Jäh züngeln auf ihrer Krone gleißend blaue Elmsfeuer. Glutfetzen lösen sich und schießen auf mich zu. Ich kann die heylanischen Hexe nicht mehr sehen, aber ich weiß, dass ihre heiße Wut … wie konnte ich nur mit so einer Furie ins Bett kriechen?
Winzige blaue Dolche bahnen sich einen Weg durch mein empfindliches Fleisch, arbeiten sich quälend langsam in meinem Hals empor … beginnen, in meinem Kopf zu einer schrillen Musik zu tanzen. Als Letztes spüre ich, wie sie meine heilige Maschine zum Sammeln und Verarbeiten von Eindrücken zerkratzen, zerbeulen, kaputtschneiden … jetzt ist sie nur noch Schrott. Dann zerbröselt die Welt … Angst, Schmerz, Verlust … ein wattiger Nebel aus gedämpften Schreien … und … nichts mehr … gar nichts.

Ich … ich … ich … alles ist weich und hell … mein feiner rosa Anzug … der Gummibund der Hose … da, ein rundes Fenster … dahinter Augen … große böse Augen starren mich an! Kalte Augen … ich … Angst! Ich will sie weg … krieche zur weichen Wand … verstecke mein Gesicht …
Plötzlich piept und rattert etwas in meinem Kopf … ein seltsames zerbeultes rostiges Ding. Es frisst das Licht, die Polster, das Bullauge mit den bösen Hexenaugen … die klebrige Landschaft unter meiner rosa Hose und ihren interessanten Geruch … dann kreischt es und spuckt alles wieder aus … wie ich Mamis Spinatbrei.
Ich muss oben und unten weinen, weil mein Spielzeug kaputt ist … ganz lange weinen … ich bin … mein rosa Anzug ist überall nass und … da ist ein Lied … ich singe es begeistert mit: „Ringel Ringel Reihen! Wir sind der Kinder Dreien. Wir sitzen unterm Hollerbusch und rufen alle husch husch husch …“
Ich … keine Angst mehr … muss hüpfen und laut schreien: „Hihihi! Carlito ist groß! Carlito hat ein Lied erfunden! Hihihi! Carlito ist ein großer Liedererfinder!“
Endlich sind die Hexenaugen hinter dem runden Fenster fort. Ich bin allein und sehr nass. „Ääääh! Mami! Mami! Ich friere! Ääääh!“