Wie alles begann …

Erster Entwurf für den Prolog. Wie alles begann …
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Prolog

Große Geschichten müssen nicht zwangsläufig mit einem Paukenschlag beginnen. Manche, auch solche, bei denen es um das Überleben der Menschheit geht, kündigen sich zunächst durch winzige Indizien an – zum Beispiel durch eine Verkehrsmeldung im örtlichen Rundfunk.
Den meisten Leuten im Land Brandenburg fällt sie gar nicht auf.
Sie sind voll und ganz mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt.
Die von der Einschränkung betroffenen Kraftfahrer nutzen fluchend die Umleitung.
Nur wenige Menschen ahnen, dass wieder einmal alles in Fluss geraten ist.
Zum Beispiel in Brandenburg an der Havel – der alten Chur- und Hauptstadt der Mark.
Knut Sjöder, einer von Hunderten rechtlosen Kulis einer Zeitarbeitsfirma, genießt auf dem Görden in seinem Garten hinter dem Häuserblock, in dem sich seine kleine unaufgeräumte Wohnung befindet, die Mittagssonne. Er hat bis eben seine Wäsche aufgehängt und nun sitzt er gemütlich mit einer Flasche seines Lieblingsgetränks auf der Bank vor seiner rotbraunen ,schwedisch anmutenden Laube. Märkischer Landmann: dunkel und süffig, aber nicht so süßlich wie Porter – ein richtiges Männerbier eben.
Sein rundes Gesicht drückte tiefe Zufriedenheit aus.
Er freut sich, dass die Sklaventreiber am Sonntag keine Macht über ihn haben.
Das Bier schmeckt großartig, auch wenn es mittags noch ein bisschen früh dafür ist. Da seine verheiratete Liebste weit weg in Brielow wohnt und sich mit ihm nur heimlich nach Einbruch der Dunkelheit trifft, ist nicht zu erwarten, dass ihm jemand den Spaß verderben wird.
Freiheit! Grenzenlose Freiheit!
So ein Moment macht jeden echten Kerl glücklich.
Knut Sjöder lässt vergnügt seinen Gettoblaster aufheulen. Auch das kann er ungestraft tun, denn in den Gärten ist niemand. Die Leute sitzen hinter geschlossenen Fenstern in ihren Wohnungen. Es ist gerade Anfang März und im Schatten verdammt kühl.
Im Schutz der schwedischen Hütte ist es kuschelig warm.
Die Wäsche des Zeitarbeiters flattert immer noch im steifen Ostwind.
Die erste Bierflasche ist geleert und kullert ins winterlich falbe Gras.
Knut entdeckt ein paar vorwitzige Schneeglöckchen und schmiedet Pläne. Man müsste diesen Garten ein bisschen hübscher gestalten, so, dass er der Liebsten gefällt. Vielleicht kommt sie dann auch tagsüber vorbei und sie trinken statt Bier gemeinsam eine Flasche Rotkäppchen-Sekt.
Das wäre schön!
Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass Knut Sjöder demnächst einen Garten Eden für die Dame seines Herzens erschaffen wird.
Dafür fühlt er sich nach der schweren Arbeit bei den Sklaventreibern viel zu kaputt.
Außerdem kann er mit Pflanzen nicht viel anfangen.
Sein Schönheitssinn ist eher auf weibliche Kurven fixiert.
Es wird bei der UGA, der Unkrautgartenschau bleiben.
Egal, das Leben ist trotzdem toll und die Nächte mit der Liebsten …
Seinem Hasen …
Auch das zweite Bier schmeckt einfach super.
Plötzlich ist Knut hellwach.
Es piept im Radio, dann folgt eine Verkehrsmeldung: „Achtung! Bei Brand in der Niederlausitz kam es zu einem Unfall mit einem Gefahrguttransporter. Es sind in größerem Umfang giftige Gase ausgetreten. Der Ort und seine Umgebung wurden weiträumig abgesperrt. Die Feuerwehr ist vor Ort. Die Anwohner wurden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen und die Fenster geschlossen zu halten. Der RE 2 wird weiträumig umgeleitet. Zwischen Königs-Wusterhausen und Lübbenau fährt bis auf weiteres Schienenersatzverkehr. Zahlreiche Dörfer sind momentan gar nicht erreichbar. Wir bitten, Fahrten in das Unfallgebiet bis auf weiteres zu unterlassen. Bitte meiden Sie Brand und seine Umgebung!“
„Häh?“, murmelt Knut Sjöder verdutzt. „Die tun ja gerade so, als wäre da eine schmutzige Bombe explodiert und nicht bloß ein kleiner Laster … außerdem Brand … da ist keine Autobahn. Da gibt es nur einen stillgelegten Flugplatz der Wehrmacht und diese riesige Halle. Darin wollten sie ursprünglich den Cargolifter bauen und jetzt ist da … ja, Tropical Islands ist in Brand, ein Ferienparadies für Polen und arme Deutsche, die sich die echte Karibik nicht leisten können. Oder denen es da zu gefährlich ist.“
Das Radio dudelt wieder friedlich vor sich hin und das Opfer kapitalistischer Ausbeutung lässt die verschiedenen denkbaren Katastrophenszenarien an sich vorüberziehen.
Alle kommen ihm mehr oder weniger unwahrscheinlich vor.
Mal ganz abgesehen von den Kesselwagen mit dem supergiftigen Zeug, die mitten in der Pampa nichts zu suchen haben. Der Inhalt eines einzelnen Behälters verflüchtigt sich bei dem steifen Ostwind im nu.
Was ist das also für Dreckzeug?
Warum sagen die uns nichts Genaueres?
Und machen andererseits ein Riesentamtam um die Sache …
„Die haben definitiv was zu verheimlichen“, ist sich Knut Sjöder plötzlich sicher. „Die bescheißen uns nach Strich und Faden. Da ist irgendwas ganz Schlimmes passiert! Diesmal in Brand und das nächste Mal … vielleicht in Brielow.“
Er greift hastig nach der dritten Bierflasche, leert sie mit drei oder vier großen Schlucken.
„Könnte es sein, dass die Regierung in kleineren Dörfern irgendwelche fiesen Experimente durchführt?.Quatsch, da ist ja noch Tropical Islands … bis oben hin vollgestopft mit Touris … das wagen sie nicht. Nein..“
In dem gebrauchten Malereimer voll Wasser befindet sich nur noch eine Flasche.
Knut schnappt sie sich und überlegt weiter.
„Was könnte da noch gerumst haben? Eine Bombe? Scheiß Terroristen? Das würde die Heimlichkeiten erklären und auch, dass sie alles so weiträumig abgesperrt haben. Sie wollen die Mistkerle kriegen und …“
Nach dem letzten Bier ist Knut beim Endpunkt aller Verschwörungstheorien angelangt.
„Da ist ganz bestimmt ein UFO abgestürzt und jetzt jagen sie die Außerirdischen. Uns steht ein Krieg der Welten bevor und mein armer Hase …“
Knut Sjöder steht schwankend auf und stolpert zurück in seine Wohnung. Er muss seine Liebste warnen, nur das ist noch wichtig.
Außerdem braucht er dringend ein Dach über dem Kopf.
Eine Höhle, in der er sich verkriechen kann.
Denn wenn das verdammte Gift auch nach Brandenburg kommt ….
Weg ist er.
Draußen flattert die Wäsche weiter im kalten Wind.
Auf dem falben Rasen liegen vier leere Bierflaschen herum.
Der Gettoblaster dudelt immer noch.
Es piept laut und dann plärren wieder diese beunruhigenden Verkehrsmeldungen durch die leeren Gärten: „Achtung! Bei Brand in der Niederlausitz kam es zu einem Unfall mit einem Gefahrguttransporter …“

© Anneliese Wipperling

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